Das Jahr 2024 stellte einen neuen Hitzerekord seit Beginn der Wetteraufzeichnungen auf. Bereits der Juni 2024 markierte den dreizehnten Monat in Folge, der für den jeweiligen Monat einen neuen Temperaturhöchstwert erreichte. Auch die Meerestemperaturen stiegen in der ersten Jahreshälfte auf Rekordniveau, wodurch extrem wetterbedingte Ereignisse wie schwere Überschwemmungen und eine besonders intensive Hurrikansaison als wahrscheinlich galten. Der Sommer 2024 war weltweit und in Europa der heißeste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Auswirkungen (in Europa) hatten dabei schwere wirtschaftliche, humane und politische Folgen. Anhand dieser Gesamtlage möchte ich versuchen zu erklären was mit dem Begriff Feral gemeint ist und was ein feraler Raum ist.
Das englische Wort ›feral‹, zu Deutsch: wild, verwildert oder ungezähmt, ist ein Attribut mit dem Phänomene beschrieben werden können die sich dadurch auszeichnen das eine durch ein menschliches Infrastrukturprojekt gepflegte und veränderte Einheit eine Entwicklung annimmt, die sich der menschlichen Kontrolle entzieht (Tsing et al. 2020) . Die Oktober Flutkatastrophe in Spanien kann veranschaulicht das Konzept: Ende Oktober 2024 erlebte Spanien eine schwere Flutkatastrophe, die vor allem die Regionen Valencia, Andalusien und Murcia traf. Ausgelöst durch ein extrem intensives "Gota Fría"-Phänomen fielen bis zu 422 Liter Regen pro Quadratmeter innerhalb von acht Stunden. Dabei kamen mindestens 205 Menschen ums Leben, über 156 Quadratkilometer Land wurden überflutet, Gebäude, Infrastruktur und landwirtschaftliche Flächen erlitten massive Schäden. Rund 190.000 Menschen waren direkt betroffen. Abgesehen von den klimatischen Einflussfaktoren auf diese Katastrophe tragen auch menschengemachte Infrastrukturelle Faktoren eine Rolle. Durch Urbanisierung und die Ausbreitung von Siedlungen sowie Industriegebieten wird zunehmend Boden versiegelt. Asphalt, Beton und andere Materialien verhindern, dass Regenwasser versickern kann, was zu einer schnelleren und stärkeren Abflussbildung führt. Auch Flüsse werden dadurch schneller überlastet, da das Wasser direkt in sie abfließt, anstatt im Boden gespeichert zu werden. Wichtig ist dabei zu betonen, dass dieses Konzept deskriptiv ist und nicht prinzipiell nur katastrophale, konsequenzenreiche Zustände meint. So können sich der menschlichen Kontrolle entziehende Räume auch das Potential für das Entstehen neuer kreativer Ökosysteme bereithalten. Ein konkretes Beispiel wäre der High Line Park in New York City, der aus einer stillgelegten Bahnstrecke entstand. Dort haben sich Pflanzen und Tiere angesiedelt, während die Menschen den Raum als kulturellen Treffpunkt und Erholungsgebiet nutzen. Solche Räume zeigen die produktive Dynamik, die aus der „Verwilderung“ von Räumen resultieren kann. Feralität ist also ein Konzept das uns aufmerksam machen kann auf die Zusammenhänge zwischen menschlich/kulturellem Leben und nicht-menschlichem oder mehr-als-menschlichem Leben.
Anna Tsing, die diesen Begriff hauptsächlich mitgeprägt hat, behauptet, dass das Prekariat die Grundbedingung unserer Zeit ist (Tsing 2021: 35). Für sie fungiert das Prekariat als eine Gesellschaftsdiagnose und bedeutet, dass wir ein Leben führen müssen, ohne das Versprechen auf Stabilität in Anspruch nehmen zu können (ebd.: 14). Dabei bezieht sie sich auf das implizite Versprechen, das noch aus der industriellen Transformation in die Gegenwart nachhallt, nämlich dass es uns als Gesellschaft immer besser gehen wird und ›der Fortschritt‹ dieses Versprechen absichert: ››Die industrielle Transformation stellte sich als leeres Versprechen heraus, mit der Folge, dass Lebensgrundlagen verloren gingen und zerstörte Landschaften zurückblieben.‹‹ (ebd.: 32). Durch das Konzept der Feralität wird also das Prekariat deutlich und tritt sichtbar zu tage. Somit erlaubt uns dieses Konzept Phänomene zu beschreiben die sich auf das Prekariat zurückführen lassen, welches in diesem Sinne auf die Konsequenzen der Fortschrittserzählung verweist, wodurch eine Fortschrittskritik möglich wird.
Für diejenigen die sich tiefer mit dem Konzept der Feralität auseinandersetzen möchten, sei der sogenannte Feral Atlas empfohlen, ein Projekt unter der Leitung von Anna Tsing, das sich ferale Phänomene in einer künstlerisch, wissenschaftlichen Webinstallation darstellt. Im nächsten Beitrag möchte ich die Idee der Ruine, angelehnt an die Gedanken Georg Simmels, Anna Tsings und Ulrich Becks, vorstellen und diskutieren. Bis dahin freue ich mich auf Diskussionen mit euch über Feralität. Welche feralen Orte fallen euch ein? Was haltet ihr von dem Konzept der Feralität?
Elfenbeinturm – Wissen für die Welt, nicht nur für den Turm.
Literatur
Tsing, Anna Lowenhaupt (2021): Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Sechste Auflage dieser Ausgabe. Berlin: Matthes & Seitz Berlin (Matthes & Seitz Berlin Paperback, 017).
Tsing et al. (2020): DUMP. In: Anna L. Tsing, Jennifer Deger, Alder Keleman Saxena und Feifei Zhou (Hg.): Feral Atlas: The More-Than-Human Anthropocene: Stanford University Press. Online verfügbar unter https://feralatlas.org/, zuletzt geprüft am 21.10.2024.