Zu Transitionen
Die deutsche Gesellschaft der Soziologie hat sich als Leitbegriff für ihren nächsten Kongress den der „Transitionen“ (Baecker 2024: 328) gegeben. Damit sollen „Verläufe und Dynamiken gesellschaftlicher, institutioneller wie individueller Veränderungen in ihren unterschiedlichen Qualitäten fokussiert werden.“ (ebd.). Dabei liegt das besondere Augenmerk auf den Prozessen des Werdens, des Dazwischen, also auf den Offenheiten und Kontingenzen (ebd.). Im entsprechenden Themenpapier (ebd.), wird eine lose Typisierung von Transitionen vorgeschlagen, die im Folgenden knapp wiedergegeben werden sollen:
Größenordnung und Reichweite von Phänomenen: die Wandlungsprozesse können parallel oder zeitversetzt, im Großen (supranationale Kriege, Klimawandel) oder im Kleinen (individuell-biografisch) vonstattengehen (ebd.: 329-330)
Form und Logik: Transitionen können geordnet und geplant, oder aber offen, dynamisch und kontingent sein, wobei es immer gilt, ihre Historizität mitzureflektieren (ebd.: 330).
Qualifizierungen, Rahmungen, Deutungen und Problematisierungen: Die Qualitäten von Transitionen werden immer auch kommentiert und auf diskursiver Ebene hervorgebracht (ebd.: 331).
Abseits der Typologisierung gilt es zwei Dimensionen der soziologischen Untersuchung zu betrachten. Dazu zählen die Konzepte und Begriffe und die methodischen Instrumente (ebd.: 332-333). Insgesamt regt die DGS mit ihrem Themenpapier zu einer offenen Herangehensweise und Interdisziplinären Ansätzen an.
Ich möchte nun auf zwei Aspekte hinweisen, die meiner Meinung nach in der bisherigen Konzeption des Leitbegriffes fehlen, um dann im Anschluss das von mir entwickelte Konzept der feralen Ruine vorzustellen. Dabei sollen die Inhalte des Themenpapiers einerseits als Strukturierungshilfe für meine Gedanken dienen, andererseits hoffe ich mit meinem Konzept die blinden Flecken oder Leerstellen der Transitions-Konzeption angemessen konzeptionell füllen zu können.
Zur Kritik
Bei all der Offenheit und Reflektion der eignen Disziplin, die ich explizit unterstütze, in der Konzeption von Transitionen, bleibt ein Aspekt unbeleuchtet. Nämlich der Begriff des Sozialen. Dieser scheint im Themenpapier nach wie vor als ein rein an menschlichen Akteuren orientierter zu bleiben. Ziel ist es „Soziales im Entstehen“ (ebd. 328) zu untersuchen, wobei das Soziale nicht in einen Kontext zu seiner ‚Umwelt‘ gesetzt wird, sondern eine isolierte Sphäre der Welt darstellt. Zwar wird im Kontext der Klimakrise eine dezidiert multiperspektivische soziologische Forschung gefordert (ebd.:329), sowie eine Übernahme von Konzepten aus Philosophie, Erziehungs-, Geschichts-, Kultur-, und Naturwissenschaften (ebd.: 333), allerdings wird hier eine Aufsummierung verschiedener Perspektiven impliziert, wie das voreinander legen unterschiedlicher Brillen, anstatt das Momentum zu nutzen um disziplinäre Grenzen tatsächlich aufzubrechen und die Grenzen – zumindest im Randbereich – verschwimmen zu lassen. Vor allem im Kontext soziologischer Forschung in Bezug auf den Klimawandel halte ich das für eine verpasste Chance. Die von mir unterstellte Implikation des Fokus auf menschliche Akteure erhärtet sich meiner Ansicht nach durch den Umstand, dass ‚Konzepte und Begriffe‘ zwar als relevante Dimension eingeführt werden, die es zu überdenken gilt, jedoch nicht in einem grundlegenden theoretischen Ausmaß. Ich bin der Überzeugung das die aufgeworfenen Fragen nach sozialem Umgang mit dem Klimawandel wie nachhaltigere Lebens- und Wirtschaftsweisen (ebd.: 329), aber auch nach der wechselseitigen Beeinflussung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, die mir grundlegender zu sein scheint, einer ebenfalls grundlegenderen Neuausrichtung theoretischer und empirischer Soziologie bedarf. Eben zu diesem Wandel, also dieser Transition des Faches hoffe ich einen kleinen Teil beitragen zu können mit dem Konzept der feralen Ruine.
Zu feralen Ruinen
Das Konzept der feralen Ruine beschreibt Räume – symbolischer oder physischer Natur - die durch menschliche Eingriffe geformt wurden, jedoch eine Dynamik entwickeln, die sich der menschlichen Kontrolle entzieht (feral = verwildert). Diese ‚Ruinen‘ sind dabei mehr als bloß verlassene oder zerstörte Orte. Sie werden zu Schnittstellen, an denen menschliche und nicht-menschliche Akteure (z. B. Pflanzen, Tiere, Infrastrukturen) miteinander interagieren und neue ökologische, soziale und symbolische Ordnungen entstehen lassen. Es handelt sich also um Räume die als Ruinen des Fortschritts das häufig verdeckte Prekariat (Tsing 2021: 14) moderner Gesellschaften offenbaren und den Weg in eine Zukunft nach dem Fortschritt weisen. Die feralen Ruinen entstehen durch die Nebenfolgen von Modernisierungs- und Kosmopolisierungsprozessen (vgl. allgemein Beck 2004), z. B. durch Industrie- oder Urbanisierungsprojekte, globale Ökonomische Verflechtungen und kulturellen Austausch. Im Verfall, der nicht zwingend rein physischer Natur sein muss, sondern genauso gut symbolisch-kultureller Natur sein kann, wie die geäußerten Zukunftsängste breiter Bevölkerungsschichten aufgrund eines Wegfalls der ‚althergebrachten Normen‘, entwickeln sich dann unkontrollierte, aber vor allem unbeabsichtigte Prozesse dynamischer Gestaltung. Diese Orte dienen dabei auch als Repräsentation von Schnittstellen zwischen Makro- und Mikroprozessen. Die Ruine zeigt globale Prozesse (z. B. ökonomische Globalisierung) auf und erlaubt zugleich die Analyse lokaler, alltäglicher Interaktionen. Um sie angemessen beschreiben und untersuchen zu können, braucht es interdisziplinäre Offenheit. Die ferale Ruine verbindet soziale, kulturelle und ökologische Perspektiven und steht somit für einen post-fortschrittlichen Raum, der Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet und neue Formen des Zusammenlebens ermöglicht oder aufzeigt, wie dieses ermöglicht werden könnte. Auf theoretischer Ebene verbindet das Konzept dabei die Theoriesprache der reflexiven Modernisierung Ulrich Becks mit den akteur-offenen, anthropologischen Untersuchungen Anna Tsings.
Bezüglich der Typologisierung von Transitionen handelt es sich mit den feralen Ruinen also um ein Konzept das flexibel genug sein soll Phänomene unterschiedlicher Reichweite, allem voran aber das Zusammenwirken globaler und lokaler Prozesse, untersuchen zu können. Im Hinblick auf die Form und Logik von Transitionen erachte ich das Konzept besonders dafür geeignet dynamische und unbeabsichtigte Prozesse in den Blick bekommen zu können. Auch die dritte typologische Dimension der diskursiven Erzeugung feraler Ruinen soll dabei durch eine Verbindung von speziellen Wissensformen (Tsing 2021: 336–337) die Anna Tsing untersucht hat und der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Reiner Kellers (vgl. allgemein Keller 2011).
Zum Ausblick
Die von mir geäußerte Kritik an einem Mangel der Ermutigung zu grundlegenderen theoretischen Umbrüchen, soll durch die theoretische Vorarbeit – die in folgenden Essays publiziert wird – in Form der Synthese von Ulrich Beck und Anna Tsing bearbeitet werden. In einem weiteren Schritt möchte ich den Begriff ‚des Sozialen‘ unter Einbezug des Sozialitätsbegriffes nach Latour dann noch einmal grundieren. Dieser schlägt vor, dass das Soziale nicht als eigenständige Sphäre existiert. Stattdessen bezeichnet es Verbindungen zwischen heterogenen Akteuren (Menschen, Dinge, Technologien, Ideen). Es geht also darum, wie diese Akteure miteinander in Beziehung treten und Netzwerke bilden (vgl. allgemein Latour 2022). Diese Problematik wird ebenfalls in den Folgenden Publikationen besprochen. Auf diesem Wege hoffe ich den sich allgemeinen Trend des Faches aufgreifen und kritisch weiterentwickeln zu können.
Literaturverzeichnis
Baecker, Dirk (2024): Transitionen. Themenpapier zum 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. In: Soziologie 53 (3), S. 328–337.
Beck, Ulrich (2004): Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Edition Zweite Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Keller, Reiner (2011): Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Qualitative Sozialforschung Band 14. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
Latour, Bruno (2022): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1967. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Tsing, Anna L. (2021): Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Matthes & Seitz Berlin Paperback 017. Berlin: Matthes & Seitz Berlin.